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Erwachsener Umgang mit Macht in Transformationsprozessen 


Es gibt keine machtfreien Räume, kein System ohne Macht. Macht ist die Möglichkeit, etwas oder jemanden zu beeinflussen, und wo Menschen miteinander interagieren, beeinflussen sie einander. Man könnte folglich sagen: Wo Menschen miteinander interagieren, begegnet Macht. Ob im zwischenmenschlichen, familiären und partnerschaftlichen Kontext oder im organisationalen Kontext. Und mit dieser unhintergehbaren Erkenntnis sind oft starke Gefühle verbunden, insbesondere die Angst. Angst vor Machtmissbrauch, vielleicht die Angst vor den eigenen Machtphantasien, Angst vor Ohnmacht, Angst vor der Gewalt der Mächtigen. Eben Angst davor, keinen Einfluss auf das zu haben, was mich betrifft. 


Angst kann zu regressivem Verhalten führen. Regression meint eine psychische Abwehrreaktion, die der Angstbewältigung dient. Dabei erfolgt ein zeitweiliger Rückzug auf eine frühere, kindlichere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung. In der Transaktionsanalyse spricht man in Bezug auf das Kind-Ich von Merkmalen wie angepasstem und ängstlichem oder rebellisch-trotzigen Verhaltensweisen. Der Gegenspieler der Regression ist die Progression, also jenem Prozess, in dem man sich von unreiferen Positionen hin zu reiferen, erwachseneren entwickelt und dabei Fähigkeiten erwirbt, die dabei helfen, Herausforderungen zu bewältigen. In der Transaktionsanalyse spricht man auch von Eigenschaften wie objektivem, situationsangemessenem, sowie sachlich konstruktivem Verhalten. Regressives Verhalten dagegen meidet jenes Verhalten und korrumpiert damit der Bewältigung von Herausforderungen. 


Eine solche Herausforderung könnten etwa die Gestaltung von Transformationsprozessen sein, wie sie derzeit in nahezu allen Landeskirchen und konfessionsübergreifend ansteht. Ebenso könnten damit aber auch die vielen großen und kleinen Herausforderungen gemeint sein, die Kirchenvorstände alltäglich zu bewältigen haben und in denen sie bisweilen die Unterstützung von Berater:innen und Supervisor:innen in Anspruch nehmen, die sich ihrerseits mit den Ängsten im Zusammenhang mit Macht konfrontiert sehen. Für diese hier exemplarisch hervorgehobenen organisationalen Kontexte, wie für viele andere, will dieser Artikel einen Beitrag dazu leisten, wie mit der Angst vor Macht umgegangen werden kann, um angesichts der zu bewältigenden Herausforderungen und Ziele wieder wirksam zu werden. 

 

Einige theoriegeschichtliche Vorüberlegungen 


Den machttheoretischen Diskurs wesentlich mitgeprägt hat der Staatstheoretiker, Mathematiker und Philosoph Thomas Hobbes. Anthropologischer Ausgangspunkt bei Hobbes ist die Annahme eines Naturzustandes in stätiger, potenzieller, gegenseitiger Bedrohung im Sinne eines Krieges Jede:r gegen Jede:n. Zur Überwindung dieses existenziell fragilen Zustandes und aus dem Bedürfnis nach Sicherheit legitimiert sich der Staat. Voraussetzung für die Legitimität eines Staates ist jedoch bei Hobbes die Anerkennung als Souveränitätsmacht durch die Vertragsbeteiligten. 


Eine weitere aufschlussreiche Perspektive auf das Phänomen Macht bietet die politische Theoretikerin und Philosophin Hannah Arendt, deren Eigenart in ihrem auffallend positiv konnotiertem Machtverständnis liegt. Demnach entspringt Macht „der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ (Arendt 2000, S. 45). 


Meines Erachtens besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit der beiden Theorien in dem Postulat der reziproken Anerkennung (Anerkennung der Souveränität des Staates angesichts eines gemeinsamen Zieles bei Hobbes/ Anerkennung der Mitglieder einer Gruppe im Sinne eines einvernehmlichen Zusammenschluss bei Arendt) als Bedingung für die Wirksamkeit und Legitimität von Macht. 


Damit wird in beiden Fällen die - eingangs angedeutete - potenziell beängstigende Bipolarität zwischen Macht und Machtlosigkeit relativiert. Bei Hobbes ist der Staat zu Gunsten eines gemeinsamen Ziels durch den Vertragsbeteiligten mandatiert. Bei Arendt ist der willkürliche Zusammenschluss und die Einvernehmlichkeit wesentliche Grundvoraussetzung für Macht überhaupt. 


Die These des Artikels lautet folglich, dass die einvernehmlich ausgehandelte Anerkennung von Handlungs- und Einflussbereichen sich positiv auf die Wirksamkeit von Systemen auswirken, deren geängstigte Akteur:innen im System zu regressivem Verhalten neigen. 

 

Wirksamkeit durch Anerkennung von Wirkungsräumen 


Es ist eine Tatsache, dass wir von vielen Faktoren um uns herum betroffen sind, wir aber nicht direkt auf alles einwirken können. Unser Einflussbereich ist nicht identisch mit unserem Betroffenheitsbereich. Dazu gehört etwa das Wetter, Erhöhung der Energiekosten, oder gesetzliche Entscheidungen der Kirchensynode. 


Dem Einflussbereich dagegen unterliegen jene Verhaltensformen, die Betroffene vornehmen können, indem sie selbst handeln, andere zum Handeln bewegen oder eine Handlung bewusst unterlassen. Im Anschluss an die oben aufgeführten Beispiele wären das etwa die Benutzung eines Schirms bei Regen, die Senkung des eigenen Energieverbrauchs angesichts steigender Energiekosten oder die Eingabe in die Kirchensynode zu einer gesetzlichen Entscheidung. 


Ebenso ist der Einflussbereich in sich zu differenzieren in Handlungsräume und Gestaltungsräume. Während Gestaltungsräume durch die Interaktionsform „Hierarchie“ beeinflusst und durch Entscheidungen gesteuert werden, werden Handlungsräume durch Kooperation beeinflusst und durch Verhandlungen gesteuert (s. Abb.). 


Oben wurde Macht definiert als „Möglichkeit etwas oder jemanden zu beeinflussen“. Nach dem hier Gesagten ist der Einflussbereich ausdifferenziert in verschiedene Bereiche relativer Macht. Die Konstruktion einer Bipolarität zwischen Macht und Machtlosigkeit ist demnach nur außerhalb des Einflussbereichs sachgemäß. Auf organisationaler Ebene wäre also je zu prüfen, in welchem Bereich sich die betroffenen Akteur:innen in Bezug auf eine gegebene Situation befinden. Die Wahrnehmung im Sinne eines Monitorings und damit einhergehende Anerkennung des real existierenden Wirkungsraumes ist dann Ausgangpunkt für die eigene Einflussnahme und die Wahl der entsprechenden Interaktionsform und Steuerungsinstrumente.   


In Bezug auf kirchliche Transformationsprozesse kann es so beispielsweise einem Kirchenvorstand gelingen, den eigenen Wirkungsraum differenziert wahrzunehmen und zu fragen: 


  1. Was kann das Gremium tun oder entscheiden, weil es innerhalb des eigenen Gestaltungsraums liegt? 
  2. Was muss das Gremium tun oder entscheiden, weil es zur Gestaltung dieses Bereichs mandatiert ist? 
  3. Worüber kann das Gremium verhandeln, weil es innerhalb des eigenen Handlungsraums liegt? 
  4. Worüber muss das Gremium - in Kooperation mit anderen Akteur:innen im Handlungsraum - verhandeln, weil es dazu beauftragt ist? 
  5. Was liegt außerhalb des Einflussbereichs und sollte deshalb auch keine Ressourcen in Anspruch nehmen? 


So kann es Akteur:innen innerhalb eines Systems gelingen, sich angesichts der zu bewältigenden Herausforderung objektiv, situationsangemessenen, sowie sachlich konstruktiv (Progression) zu verhalten, ohne in regressives Verhalten zu verfallen, das aus der Konstruktion eines absoluten Abhängigkeitsverhältnisses oder einer trotzigen Machtphantasie resultiert. 



Quellenangaben: 

Arendt, Hannah, 2000. Macht und Gewalt. 14. Auflage. München: Piper Verlag. ISBN 978-3-492-20001-1 

Chwaszcza, Christine, 2001. Thomas Hobbes. In: Hans Maier und Horst Denzer, Hrsg. Klassiker des politischen Denkens. Von Plato bis Thomas Hobbes. Band 1. München: C.H. Beck. ISBN 978-3-406-42161-7 


Sebastian Krombacher

Sebastian Krombacher hat vom 1. Dezember 2022 bis 31. Mai 2023 sein Spezialvikariat im IPOS gemacht und ist nun als Pfarrer in Neu-Anspach tätig.




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